* 49 *
Marcias Schritte dröhnten auf den warmen Bohlen der alten Holzbrücke, als sie forsch den Palastgraben überquerte. An ihrer Seite schritt Milo Banda. Er hatte sie von der Werft zum Palast begleitet und unterwegs versucht, sie nach ihrem Wortwechsel mit Tante Zelda zu beruhigen.
Neben dem kleinen goldenen Stuhl, auf dem Godric döste, stand eine Unterzauberin im Palasttor, eine adrette junge Frau mit leuchtend grünen Augen.
»Guten Abend«, grüßte sie lächelnd. »Willkommen im Palast.«
»Guten Abend, Hildegard«, erwiderte Marcia.
Milo Banda zögerte und blieb unschlüssig auf der Türschwelle stehen. Marcia bemerkte, dass er leicht zitterte und Tränen in den Augen hatte.
»Oh«, sagte sie sanft. »Es tut mir leid, Milo. Wo habe ich nur meinen Kopf? Möchtest du eine Weile für dich sein?«
Milo Banda nickte und ging alleine weiter. Er schlenderte den Langgang hinunter. Beim Anblick der leeren Wände schüttelte er traurig den Kopf.
Marcia fühlte sich mit einem Mal sehr müde. Es war ein langer Tag gewesen. Seit der Benennung empfand sie ein merkwürdiges Gefühl der Leere, und zudem schmerzte sie auch noch der Fuß, in den Feuerspei sie am Morgen gekniffen hatte. Mit einem Seufzer der Erleichterung sank sie schwer auf Godrics Stuhl und zog den Schuh aus. Der Geist fuhr erschrocken vom Stuhl hoch und fiel als wirres Knäuel zu Boden.
»Alther«, sagte Marcia ärgerlich, »habe ich Ihnen nicht gesagt, Sie sollen alle Alten abziehen? Wir brauchen sie nicht mehr, seit die Unterzauberer den Türdienst versehen.«
»Godric war tief getroffen, als ich ihn fortschicken wollte, und so habe ich ihm gesagt, dass er bleiben kann«, entgegnete Alther pikiert. »Sie sollten mehr Respekt vor den Alten haben. Eines Tages werden auch Sie zu ihnen gehören.«
Alther klopfte Godric den Staub ab und trug ihn zu einem bequemen Ohrensessel in einer ruhigen, dunklen Ecke in der Halle. Der alte Geist fiel sofort in einen tiefen Schlaf und wachte erst viele Jahre später wieder auf, als Jennas Tochter mit ihrem Roller in ihn hineinfuhr.
Als Jenna in den Palast zurückkehrte, bemerkte sie unglücklicherweise nicht, dass Alther und Marcia schweigend im Schatten der flackernden Kerzen saßen, die überall in der Halle aufgestellt waren. Und so war die erste Person, die sie sah, der Fremde aus Port. Er kam ihr aus dem dunklen Langgang entgegen. Bei seinem Anblick stockte ihr der Atem. Sie blieb abrupt stehen und schrie.
Marcia sprang auf. »Jenna, was ist los?«, rief sie und schaute nervös um sich.
Jenna antwortete nicht. Sie rannte aus dem Palast und flüchtete sich zu Septimus, Nicko, Tante Zelda und Wolfsjunge, die gerade über den Rasen geschlendert kamen, während Feuerspei unbedingt eine Graseidechse jagen musste.
»Er ist hier!«, schrie sie, als sie bei Tante Zelda war. »Dieser Mann ... er ist hier!«
»Welcher Mann?«, fragte Tante Zelda, gleichermaßen belustigt wie verwundert, als sie Marcia mit nur einem Schuh über den Rasen auf sie zuhumpeln sah.
»Was ist denn los, Jenna?«, fragte Marcia atemlos, als sie endlich bei ihnen angekommen war.
»Dieser Mann aus Port... der Fremde, der Donner festgehalten hat und mir gefolgt ist, der Mann, der mit Simon unter einer Decke steckt. Sie haben ihn in meinen Palast eingeladen. Das ist los!«
»Aber Jenna«, protestierte Marcia, »dieser Mann hat jedes Recht der Welt, sich im Palast aufzuhalten. Das ist Milo Banda. Er ist...«
»Ist mir doch egal, wer er ist!«, schrie Jenna.
»Aber Jenna, hör doch zu ... Er ist dein Vater!«
»Nein ... ist er nicht«, stammelte Jenna. »Mein Vater ist unten auf der Bootswerft... mit meiner Mutter.«
»Ja, Silas ist auf der Werft«, sagte Marcia sanft. »Und Milo ist hier. Milo ist dein richtiger Vater, Jenna. Er ist gekommen, um dich zu sehen.«
Lange Zeit sagte Jenna nichts. Dann plötzlich platzte sie heraus: »Und warum ist er dann nicht früher gekommen, um mich zu sehen ... als ich noch klein war?« Und damit rannte sie über den Rasen und den Weg entlang, der zur Rückseite des Palastes führte.
»Du liebe Zeit!«, stöhnte Marcia.
Auch Silas Heap nahm die Rückkehr Milo Bandas nicht gut auf, zumal Sarah darauf bestand, auf dem Dach des Palastes ein Begrüßungsessen für ihn zu geben.
»Ich verstehe nicht«, wendete Silas ein, »wie du feiern kannst, während unser ältester Sohn da unten in diesen schrecklichen Eistunneln steckt.«
Sarah deckte gerade den Tisch, und Silas hatte sich in einen goldenen Palastsessel geworfen und blickte missmutig in den dunkler werdenden Sommerhimmel.
»Ich möchte jetzt nicht an Simon denken«, sagte Sarah energisch. »Die Suchmannschaft wird ihn bald finden, und dann bekommt er endlich ein warmes, sicheres Plätzchen.«
»Ja, ein warmes sicheres Plätzchen im Palastkerker! Ich würde mir etwas anderes für ihn wünschen«, grummelte Silas.
Sarah schüttelte den Kopf. »Falls du dich erinnerst: Gestern noch hatten wir keine Ahnung, wo unsere Kinder sind. Jetzt sind alle drei wieder da – alle vier, wenn du Simon mitzählst. Wir sollten uns glücklich schätzen. Von dieser Seite her will ich es von heute an betrachten.« Sie strich das Tischtuch glatt und schickte den Diener in die Küche, um nachzusehen, wie weit der Koch war. »Auf jeden Fall müssen wir Milo Banda willkommen heißen, Silas. Er ist schließlich Jennas Vater.«
»Hah!«, sagte Silas mürrisch.
Sarah stellte ihre Lieblingskerzenständer sorgfältig in die Mitte der langen Tafel. »Wir mussten doch immer damit rechnen, dass er eines Tages kommt. Darüber solltest du dich nicht lustig machen.«
»Ich mache mich nicht lustig«, protestierte Silas. »Ich finde es nur merkwürdig, dass er nach so vielen Jahren plötzlich hier auftaucht. Ich meine, wo hat er denn die ganze Zeit gesteckt? Also mir kommt das verdächtig vor. Hah!«
»Hör doch auf, ständig ›Hah‹ zu sagen, Silas. Das klingt so gehässig.«
»Vielleicht bin ich gehässig. Und ich sage ›Hah‹, so oft ich will, Sarah. Hah!«
Das Begrüßungsessen dauerte bis tief in die Nacht. Sarah hatte Milo Banda ans Kopfende der Tafel gesetzt, die nur mit einem weißen Tuch gedeckt war. Das erinnerte Jenna an den Morgen ihres zehnten Geburtstags, obwohl es ihr so vorkam, als sei er schon eine Ewigkeit her. Jenna hatte sich möglichst weit von ihrem Vater weggesetzt – ans andere Ende des Tischs. Doch als sie Platz nahm, begriff sie, dass sie ihm genau gegenübersaß, und jedes Mal, wenn sie aufschaute, bemerkte sie, dass er versuchte, sie anzulächeln oder ihren Blick aufzufangen. Deswegen starrte sie die meiste Zeit auf ihren Teller oder unterhielt sich mit Tante Zelda, die neben ihr saß.
Als die Fackeln heruntergebrannt waren und Mitternacht nahte, wurde es kühl, und die ersten Gäste gähnten. Tante Zelda beugte sich zu Jenna hinüber und sagte mit leiser Stimme: »Dein Vater ist ein guter Mensch, Jenna. Du solltest dir anhören, was er dir zu sagen hat.«
»Interessiert mich nicht, was er zu sagen hat«, erwiderte Jenna.
»Eine kluge junge Königin hört zuerst zu. Dann bildet sie sich ein Urteil.«
Das Essen war vorüber. Marcia, Septimus und Feuerspei waren in den Zaubererturm zurückgekehrt. Nicko war mit Silas verschwunden, der ihm eine neue Kolonie von Burgenschachfiguren zeigen wollte, die er auf dem Dachboden des Palastes hinter einem Rohr entdeckt hatte. Sarah kümmerte sich um Wolfsjunge, der schon zu Beginn des Essens eingeschlafen war, und Tante Zelda war unten in der Küche und versuchte, den Koch zu überreden, für das Frühstück am nächsten Morgen Kohl zu kochen. Alther Mella saß schweigend im Schatten und sann über die Ereignisse des Tages nach.
Und Jenna hörte Milo Banda zu.
»Weißt du«, sagte Milo gerade, »deine Mutter und ich haben uns so gefreut, als wir erfuhren, dass wir ein Kind bekommen sollten. Wir wünschten uns beide eine Tochter, damit sie Königin werden konnte. Ich selbst war natürlich nie König. Anders als in vielen Fremdländern ist das hier nicht gebräuchlich. Dort – man sollte es nicht für möglich halten! – vererbt sich der Thron auf die männlichen Nachkommen. Sehr befremdlich. Aber ich war froh, dass ich nicht König wurde, denn obwohl ich nur ein einfacher Kaufmann war, liebte ich meinen Beruf. Ich liebte aufregende Reisen und hoffte, eines Tages selbst ein Vermögen zu machen. Dann, sechs Monate bevor du auf die Welt kommen solltest, ergab sich dazu eine Gelegenheit. Mit Zustimmung deiner Mutter mietete ich in Port ein Schiff und stach in See. Das Glück war mir hold, und bald war mein Schiff voll beladen mit Schätzen, die ich dir und deiner Mutter bringen wollte. Alles ging gut. Ich hatte eine gute Mannschaft und günstige Winde auf der ganzen Heimfahrt. Wir liefen genau an dem Tag in Port ein, an dem du geboren werden solltest. Mein Glück war vollkommen. Dachte ich. Und dann ... als wir anlegten ...« Milos Stimme stockte. »Ich erinnere mich, als sei es gestern gewesen ... Ein Matrose überbrachte mir eine furchtbare Nachricht, die in ganz Port die Runde machte ... die Nachricht, dass meine geliebte Cerys, deine Mutter, ermordet worden sei. Und meine kleine Tochter auch.«
»Aber ich wurde nicht ermordet«, flüsterte Jenna.
»Nein. Heute weiß ich das. Aber damals nicht. Ich habe geglaubt, was alle sagten.«
»Aber sie hatten Unrecht. Warum bist du nicht in die Burg gekommen und hast nachgeprüft, ob es stimmte? Warum hast du mich nicht gesucht? Du bist weggelaufen.«
»Ja. So sieht es wohl aus. Aber zu der Zeit konnte ich es nicht ertragen, hier zu bleiben. Ich stach mit der nächsten Flut wieder in See und fuhr ziellos umher, wohin mich die Winde auch trugen – bis ich Deakin Lee in die Hände fiel.«
»Deakin Lee!« Selbst Jenna war der gefürchtete Deakin Lee ein Begriff, obwohl sie sich überhaupt nicht für Piraten interessierte.
Milo wagte ein wehmütiges Lächeln in ihre Richtung. Sie lächelte unsicher und verhalten zurück.
»Die sieben langen Jahre in Deakin Lees Gefangenschaft werde ich niemals vergessen«, fuhr er mit leiser Stimme fort. »Die ganze Zeit dachte ich an das schreckliche Verbrechen, das an dir und deiner lieben Mutter begangen worden war ...«
»Wie bist du entkommen?«, fragte Jenna.
»Eines Nachts, im Frühling letzten Jahres, wurde das Schiff von hohen Wellen überrascht. Wie es hieß, wurden die Wellen von einem Dunkelsturm verursacht, der Tausende Meilen von uns entfernt tobte, aber für mich waren es gute Wellen. Deakin Lee wurde über Bord gespült, und seine Mannschaft ließ mich frei. Ich übernahm das Schiff. Ein paar Wochen später liefen wir einen kleinen Hafen an, und mir kam das Gerücht zu Ohren, dass du am Leben seist. Ich konnte es kaum glauben – ich fühlte mich wie neugeboren. Wir setzten sofort Segel und hatten bis Port günstige Winde. Wir gingen vor der Küste vor Anker und hissten die gelbe Flagge, um den Zoll zu benachrichtigen, und die Oberzollinspektorin ließ sich am nächsten Morgen zu uns herausrudern. Sie warf einen Blick auf die Schätze an Bord und teilte uns mit, dass wir warten müssten, bis der Hauptzollspeicher frei sei – diese Nettles nimmt es sehr genau. Aber ich bin ihr dankbar, denn hätte sie es nicht getan, hätte ich dich an jenem Abend nicht gesehen.«
Jenna dachte an die Szene im Lagerhaus. Jetzt ergab alles einen Sinn.
»Als ich dich dort auf dem Pferd sitzen sah«, fuhr Milo fort, »genau so wie deine Mutter früher, und als ich dann auch noch das Diadem auf deinem Kopf bemerkte, da wusste ich, dass du meine Tochter warst. Aber ich muss mich entschuldigen, Jenna, ich glaube, ich habe dir an jenem Abend einen Schrecken eingejagt. Es war unüberlegt von mir, ich wollte einfach mir dir sprechen, Jenna ... Jenna?«
Jenna hatte sich umgedreht und spähte in den Schatten, den die Fackeln auf dem Palastdach warfen.
»Jenna?«, wiederholte Milo.
»Ich habe das Gefühl, dass mich jemand beobachtet«, sagte sie.
Milo trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. »Ich auch«, sagte er. Milo Banda und seine Tochter starrten in die Dunkelheit, aber weder er noch sie sah den Geist der Königin, der zusah, wie Vater und Tochter zum ersten Mal in ihrem Leben miteinander sprachen.
Alther schwebte zur Königin. »Ich sehe mit Freuden, dass Sie sich endlich aus dem Königinnengemach gewagt haben.«
Die Königin lächelte wehmütig. »Ich muss gleich wieder zurück, Alther, aber ich konnte der Versuchung nicht widerstehen. Ich wollte nur noch einmal meinen geliebten Milo sehen, und zusammen mit unserer Tochter.«
»Man sieht, dass sie Vater und Tochter sind«, bemerkte Alther.
»Ja, das ist wahr.« Die Königin nickte langsam. »An der Art, wie sie dastehen, nicht wahr?«
»Obwohl sie ganz nach Ihnen schlägt.«
»Ich weiß«, seufzte die Königin. »Gute Nacht, Alther.«
Alther sah zu, wie die Königin lautlos an Jenna und Milo Banda vorüberschwebte. Beide blickten genau in ihre Richtung, sahen sie aber nicht. Bald hatte die Königin das Türmchen erreicht und trat vorsichtig durch die dicke Steinmauer. Im Königinnengemach brannte das Feuer so hell wie immer, und die Königin setzte sich still in ihren Sessel und dachte an die Ereignisse des Tages – eines Tages, auf den sie seit so vielen Jahren gewartet hatte.
Septimus, Marcia und Feuerspei gingen langsam die Zaubererallee entlang. Die Fackeln brannten an ihren Silberpfählen, und Feuerspei sprang unentwegt nach den Schatten, die auf dem Pflaster tanzten. Es war jetzt nach Mitternacht, und alle Geschäfte waren geschlossen und dunkel, doch als sie am Manuskriptorium vorbeikamen, glaubte Septimus, hinter den hohen Bücher- und Papierstapeln einen Lichtschein bemerkt zu haben. Doch als er genauer hinsah, konnte er nichts erkennen.
Marcia humpelte mühsam die Marmorstufen zum Zaubererturm hinauf. Septimus brachte Feuerspei für die Nacht in den notdürftig reparierten Drachenzwinger.
»Sorge dafür, dass er nicht heraus kann, Septimus«, mahnte ihn Marcia, als die große silberne Tür vor ihr aufging. »Und vergiss nicht, die Tür doppelt zu verriegeln.«
»Wird gemacht«, erwiderte er, und Marcia wankte dankbar nach drinnen.
Feuerspei beruhigte sich überraschend schnell. Septimus schob zwei schwere eiserne Riegel an der Tür vor und schlich auf Zehenspitzen davon, obwohl der Drache schon so laut schnarchte, dass der ganze Zwinger bebte.
Es war eine schöne Nacht. Der Hof des Zaubererturms lag verlassen da. Die magischen Fackeln, die oben auf der Umgrenzungsmauer brannten, warfen ein weiches lila Licht auf die alten Steinplatten, das so schwach war, dass Septimus dennoch Tausende und Abertausende Sterne am Nachthimmel sehen konnte.
Er hatte keine Lust, hineinzugehen. Er blickte zu den Sternen, und seine alten Träume vom Fliegen kamen ihm ins Gedächtnis. Er wusste, dass er nicht länger widerstehen konnte – er zog den Flug-Charm hervor. Der goldene Pfeil mit seinen neuen Silberschwingen lag sirrend in seiner Hand, und Septimus verspürte ein magisches Prickeln. Dann begannen die Schwingen zu schlagen, und er fühlte, wie er vom Boden abhob, höher und immer höher, bis er über dem Großen Bogen schwebte. Er nahm den Pfeil zwischen Daumen und Zeigefinger, richtete ihn auf den Palast, breitete die Arme aus, wie er es einmal bei Alther gesehen hatte, und flog los.
Er segelte zur Zaubererallee hinunter, jagte in geringer Höhe und schnell, so wie Alther es liebte, zum Palasttor hinüber und schwang sich zum Dach des Palastes empor, so wie er es in seinen Träumen getan hatte. Er sah unter sich Jenna und ihren Vater an den Zinnen lehnen und leise miteinander sprechen. Er wusste nicht recht, ob er sie stören sollte, aber es juckte ihn, Jenna zu überraschen und ihr zu zeigen, wie gut er fliegen konnte. Und so schwebte er einen Augenblick über den beiden und wartete darauf, dass Milos Redefluss ins Stocken geriet. Da stach ihm plötzlich etwas ins Auge.
Jenseits des Flusses galoppierte ein Pferd durch die Farmlande. Und auf dem Pferd – das kurz zuvor vor der Schenke Zum Dankbaren Steinbutt gestohlen worden war – saß eine vertraute Gestalt. Simon.
Septimus richtete den goldenen Pfeil auf die dunkle Gestalt. »Folge ihm«, flüsterte er ihm zu. Im nächsten Augenblick schwirrte er davon und sauste über den Rasen, der zum Fluss führte. Bald glitt er, den feuchten Geruch des Flusses in der Nase, über das nachtkalte Wasser und scheuchte ein paar Enten auf. Als das ärgerliche Gequake der Enten verstummte, hatte er das andere Ufer erreicht. Er flog über das Strohdach eines einsamen Bauernhauses, verharrte einen Augenblick an einer Stelle und hielt nach seinem Bruder Ausschau. Tatsächlich entdeckte er in der Ferne, auf der staubigen Straße, die sich durch die Farmlande schlängelte, einen Reiter, der sein Pferd durch die Nacht trieb. Nach einem letzten, atemberaubenden Tempoflug hatte er Simon eingeholt und segelte, zunächst unbemerkt, neben ihm her, wobei er ohne Mühe das Tempo des schwitzenden Pferdes mithielt.
Nach einer Weile spürte Simon, dass etwas nicht stimmte. »Du!«, brüllte er und brachte das Pferd zum Stehen.
Septimus landete schwerelos vor dem Pferd.
»Du ... du hast meinen Flug-Charm«, stieß Simon hervor, als er den goldenen Pfeil in Septimus’ Hand sah.
»Ja, ich habe den Flug-Charm«, erwiderte Septimus und flog elegant ein Stück zurück, als Simon sich vorbeugte, um ihm den Charm zu entreißen. »Aber der Charm gehört nicht mir. Er gehört niemandem, Simon. Du solltest eigentlich wissen, dass ein alter Charm sein eigener Herr ist.«
»Eingebildeter Affe«, knurrte Simon vor sich hin.
»Was hast du gesagt?«, fragte Septimus, obwohl er genau verstanden hatte.
»Nichts. Geh mir aus dem Weg, Rotznase, und glaub ja nicht, du könntest mich diesmal mit irgendeinem blöden Erstarrungszauber aufhalten.«
»Das will ich gar nicht«, erwiderte Septimus, der jetzt vor dem Pferd schwebte. »Ich bin nur hier, um dir zu sagen, dass du verschwinden sollst.«
»Genau das ist meine Absicht«, knurrte Simon.
Septimus blieb, wo er war, und versperrte Simon weiter den Weg. »Und ich wollte dir noch etwas sagen: Solltest du dich noch einmal an Jenna vergreifen, bekommst du es mit mir zu tun. Verstanden?«
Simon starrte seinen jüngsten Bruder an. Septimus starrte zurück, und seine grünen Augen funkelten zornig. Simon sagte nichts, denn er spürte die Macht, die von Septimus ausging – die Macht des siebten Sohnes eines siebten Sohnes.
»Verstanden?«, wiederholte Septimus.
»Ja«, knurrte Simon.
»Du kannst gehen«, sagte Septimus kühl, ließ sich zu Boden sinken und trat beiseite, damit Simon vorbeikonnte.
Simon schaute auf den wehrlosen Jungen hinab, der weit nach Mitternacht ganz allein in den Farmlanden stand. Eine Sekunde lang stellte er sich vor, wie leicht es wäre, Septimus verschwinden zu lassen. Niemand würde jemals erfahren, was geschehen war. Niemand würde Verdacht schöpfen ... Aber er tat nichts. Und dann, ganz plötzlich, trat er dem Pferd in die Flanken, galoppierte davon und rief über die Schulter zurück: »Ich wünschte, du wärst tot gewesen, als die Hebamme dich geholt hat!«
Als Septimus zum Zaubererturm zurückflog, hallten Simons Worte in seinem Kopf wider.
Er lächelte. Der letzte seiner Brüder hatte ihn anerkannt.